- Musikgeschichte: Notation, Komposition und die Geschichtlichkeit europäischer Musik
- Musikgeschichte: Notation, Komposition und die Geschichtlichkeit europäischer MusikDie Vorstellung, dass Noten als fertiges und verfügbares Hilfsmittel bereit liegen, um Musik aufzuschreiben, reflektiert die Situation der Komponisten im 18. und 19. Jahrhundert, die über musikalische Schriftbilder ebenso wenig nachzudenken brauchten wie ein Dichter über Buchstaben. Dennoch kann selbst bei Werken dieser Zeit, bedenkt man das Spektrum ihrer möglichen Interpretationen, von einer Verbindlichkeit des Notierten kaum die Rede sein. Das gilt in erhöhtem Maße für die Musik des 20. Jahrhunderts mit ihren neuen Klängen und neuen Zeichen. Es gilt gleichfalls für den Jazz, seine Rhythmik, seine Tongebung und seine Intonation, sowie für die außereuropäische Musik, deren akustische Realität sich den Chiffren unseres Tonsystems weitgehend verschließt.Unsere Notenschrift ist das Ergebnis eines Prozesses, der im 8. Jahrhundert einsetzt, über das Mittelalter hinaus noch die Musikgeschichte der Renaissance prägt und erst im Barock zu einem vorläufigen Abschluss kommt. Erfindung und Niederschrift von Musik stehen dabei immer in Wechselwirkung. Komposition fordert Notation heraus, und neues Notieren ermöglicht neuartiges Komponieren. Frühe Phasen der Notenschrift sind daher keine unvollkommenen Vorstufen der heutigen, sondern ihre Zeichen fixieren das jeweils Gewollte. Sie sind zumeist das stimmige Abbild dessen, was erklingt, ein Faktum, das durch die Probleme bestätigt wird, die sich bei Übertragungen (Transkriptionen) in moderne Notation ergeben.Anhand zweier Kompositionen aus dem 13. Jahrhundert kann das verdeutlicht werden. Am Anfang eines dreistimmigen Organums zum Fest Mariae Geburt, »Alleluya. Nativitas«, des Notre-Dame-Meisters Perotinus singen zwei in ihrer Bewegung gleichartige Oberstimmen wellenförmige Melodielinien über zwei lang gedehnten Tönen (»Al« und »le«) der Unterstimme. In der Mitte des zweiten Systems, kurz vor der Silbe »lu«, wechselt die Satztechnik. Die Unterstimme singt kurze Töne zu etwa doppelt so vielen Tönen der Oberstimmen, um bei »ya« wieder einen gedehnten Ton anzuschließen. »Haltetonpartie« und »Discantuspartie« sind die charakteristischen beiden Kompositionstechniken der Notre-Dame-Organa. Ferner erkennt man in den Oberstimmen Gruppierungen von Noten, »Ligaturen«, die meist aus Dreier- oder Zweiergruppen bestehen. Länge und Zusammenstellung der Ligaturen bestimmen den Rhythmus nach festgelegten Modellen, »Modi« genannt. Daher heißt diese Art der Notation »Modalnotation«. Bei einer Umschrift in moderne Notation nehmen die Oberstimmen bei weitem mehr Raum ein, wodurch die abschnittartige Zusammenfassung über einem Halteton der Unterstimme optisch nicht mehr deutlich wird. Ligaturen, die unserer Notenschrift fremd sind, müssen durch zusätzliche Bögen angezeigt werden, moderne Taktstriche signalisieren Schwerpunkte, die das fließende Metrum des Organums eher stören. In allen diesen Punkten ist das Original der Transkription überlegen. Professionelle Ensembles für alte Musik tendieren daher heute dazu, Stücke dieser Art nach der ursprünglichen Notierung aufzuführen.Im Schriftbild eines solchen Organums - auch das entfällt bei der Transkription - ist die geschichtliche Entwicklung der Notierung bis zu diesem Punkte sichtbar noch enthalten. Über vierhundert Jahre vor Perotinus begannen die ersten Niederschriften einstimmiger Gesänge in linienlosen Neumen. Feste Tonhöhen geben sie noch nicht wieder, dafür aber, besser als Notenpunkte auf Linien, die freie Führung einer Melodie mit allen ihren Bewegungen und Zwischentönen. Viele Bewegungszeichen der Neumen wurden in die Choralnotation, die nächste Stufe der Notierung des Gregorianischen Chorals, übernommen, die durch Platzierung der Noten auf Linien die Tonhöhen eindeutig bestimmbar macht. Die Neumen erscheinen in der Choralnotation als Ligaturen in Form enger, mit einem Federstrich gezogener Verbindungen von Notenpunkten, die das Bild melodischer Bewegungseinheiten annähernd bewahren. Und genau diese Ligaturen benutzt die Notre-Dame-Schule ihrerseits zur Kennzeichung rhythmischer Bewegungseinheiten, die damit möglicherweise auch auf melodische Qualitäten aus der Neumentradition verweisen. Das neue Kompositionsprinzip fixierter Rhythmen korrespondiert mit einer neuen Art der Notierung, die im Schriftbild - da nur zur Notre-Dame-Zeit so komponiert und so notiert wurde - ihren eigenen geschichtlichen Ort aufzeigt, und die zugleich ältere Schriftformen bis zurück zu den Neumen verwandelnd bewahrt.In einer dreistimmigen Motette aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, eine Gattung, die aus dem Organum der Notre-Dame-Schule hervorgeht, sind die drei Stimmen sind nicht mehr partiturmäßig übereinander gesetzt, sondern auf ein »Lesefeld« verteilt. Auf dem Blatt steht neben der Oberstimme, dem »Triplum«, mit dem Text »Ave virgo regia. ..«, die Mittelstimme, der »Motetus«, mit dem Text »Ave gloriosa«, darunter in einer einzigen Notenzeile die Unterstimme, der »Tenor«. Er hat keinen Text, denn er wurde von einem Instrument ausgeführt, wohl aber eine Textmarke, »Domino«, die anzeigt, dass es sich melodisch um einen kurzen Choralausschnitt handelt, einen Ausschnitt mit dem Textwort »Domino« (=dem Herrn). Die Anordnung auf dem Blatt entspricht der Aufführungssituation durch zwei Sänger und einen - vielleicht sitzenden - Instrumentalisten, die alle ihren Part bequem überblicken konnten.Trotz der Herkunft der Motette aus dem Organum schafft der Text der beiden Oberstimmen neue Voraussetzungen für die Notation. Die Organumstimmen hätte man nicht textieren können, Buchstaben, selbst eng geschrieben, beanspruchen viel mehr Platz. Das erklärt die Trennung der Stimmen und das Auseinanderrücken der Noten. Wieder hat eine Gattungsentwicklung Notationsformen angeregt und umgekehrt die Notierung der Einzeltöne die Entfaltung der Gattung Motette erst ermöglicht. Einzelton-Notierung gab es natürlich schon vorher für die Aufzeichnung einstimmiger Lieder. In der mehrstimmigen Musik aber ist sie neu und hat erhebliche Konsequenzen. Denn da die Ligaturen, bis auf Ausnahmen, entfallen, musste das Problem der Kennzeichnung des Rhythmus auf andere Weise gelöst werden als bisher. Durch die Einführung von langen und kurzen Noten, eine Note mit einem Strich ist eine »Longa«, das heißt eine lange Note, ohne Strich ist sie eine »Brevis«, eine kurze Note. wurde erstmals das Zeichen einer einzelnen Note mit einem eindeutigen Längenwert verknüpft, sodass man nun viel differenziertere Rhythmen notieren konnte als mit den Modi der Modalnotation. Die Textierung der Motettenstimmen war der Anlass für die Entstehung eines präzisen Systems rhythmischer Werte und ihrer Aufzeichnung, der »Mensuralnotation«, deren Grundprinzip - neben bedeutenden Veränderungen - noch heute gilt.Was die beiden Beispiele zeigen, gilt für die Musik des gesamten Mittelalters. Von der Dasianotation und den Neumen bis zum Manierismus der Ars subtilior dokumentieren die Niederschriften Stadien einer Notationsgeschichte, die mit Veränderungen der Musik korrespondieren. Daneben und darüber hinaus besteht eine grundsätzliche Beziehung zwischen Notation und musikalischer Geschichtlichkeit, analog der Beziehung von Schrift und Geschichte überhaupt, nur mit dem Unterschied, dass die Musik erst Jahrtausende später als die Sprache zu ihrer Schriftkultur fand. Durch Notation emanzipiert sich Musik von der Vergänglichkeit des Klangs, wird etwas Bleibendes und objektiviert sich zum Werk. Zwar ist die Notenschrift nur das Werkabbild, das eigentliche Werk muss jeweils erst wieder realisiert werden. Doch allein die Möglichkeit solcher Realisierung (oder auch innerer Vergegenwärtigung durch bloßes Lesen) vermittelt der Musik eine ihr neue geschichtliche Dimension. Seitdem können Musiker Vergangenes wahrnehmen, an ihm lernen, es neu interpretieren, es verändern und es in der veränderten Form wieder aufschreiben oder ihm Neues kontrastierend gegenüberstellen. Das fixierte Notenbild bindet Kompositionen an ihre Zeit. Durch den Vergleich mit früher oder später Entstandenem schafft es die Voraussetzungen für Werk- und Stilphasen, für die Beschreibung, Prüfung und Kritik dessen, was Musik einmal war und was aus ihr wurde. Mit der geschichtlichen Folge ihrer Abbilder spiegelt und begründet die Notenschrift die Geschichte der Komposition.Erstmals und ausdrücklich kommt dies zur Zeit der Ars nova um 1320 einer jüngeren Generation von Komponisten zum Bewusstsein. Indem sie eine »neue Kunst« der Notierung formulieren und die vorangegangene für überholt halten, propagieren sie eine neue Kunst der Komposition oder umgekehrt: Sie erkennen, dass ihre neue »Ars« der Komposition mit der alten »Ars« der Notation nicht wiedergegeben werden kann. Auch später sind musikgeschichtliche Zäsuren oft dadurch gekennzeichnet, dass einzelne Künstler oder Gruppen, nicht selten in polemischer Überspitzung, Neues programmatisch Altem entgegenstellen. Johannes Tinctoris bezeichnete um 1474 die Musik der letzten Jahrzehnte als eine ganz »neue Kunst« (»quod ars nova esse videatur«). Giulio Caccini nannte 1601 seine expressiven Sologesänge im neuen monodischen Stil der Florentiner Camerata »Le nuove musiche«. Ebenso könnte auf Aussprüche Haydns und Beethovens, auf Liszt und die »Neudeutsche Schule«, auf die »Neue Musik« des 20. Jahrhunderts wie auf die Avantgarde und Postmoderne verwiesen werden. Stilistische Innovationen sind ein Charakteristikum europäischer Musik seit dem Mittelalter. Doch im Unterschied zu späteren Epochen vollzogen sich die kompositorischen Neusetzungen bis ins 15. Jahrhundert hinein immer in der Bindung an eine neue Art der Notierung.Das lenkt den Blick auf die theoretische Schriften zur Musik in dieser Zeit. Denn während späterhin, vor allem im 18. und 19. Jahrhundert, Notenlehre als Schülerwissen weit unter- und außerhalb musiktheoretischer Erörterungen angesiedelt war, galten der Musiktheorie des Mittelalters Notation und Komposition als gleichrangige Gegenstände. Allerdings muss man, wenn man von mittelalterlicher Musiktheorie spricht, prinzipiell zwei Ebenen unterscheiden, die gesondert, wenn auch nicht beziehungslos, nebeneinander stehen und die sich in unterschiedlichem Maße an die Musikgeschichte der Zeit binden. Die eine Ebene, im Verständis der Zeit die »höhere«, ist die seit der Antike tradierte kontemplative Musikbetrachtung. Sie versteht sich als Wissenschaft von Zahlengesetzen, die der Bewegung im Kosmos und - christlich gesprochen - einer göttlichen Weltordnung zugrunde liegen. Musik ist für sie wesentlich und zuerst »Musica mundana«, Sphärenharmonie und universale Ordnungskraft. In ihr ist das Wesen musikalischer Gesetzlichkeit beschlossen, die auf einer zweiten Seinsstufe auch auf den Menschen einwirkt, erkennbar (nicht etwa hörbar) als »Musica humana«, als Harmonie und geordnete Bewegung der Seele und des Leibes. Erst auf einer dritten, untersten Stufe wird Musik als »Musica instrumentalis« (Gesungenes und Gespieltes) klingend erfahrbar. Kontemplative Musiktheorie dieser Art, die selbst das real Erklingende nur in seiner allgemeinen Gesetzlichkeit zu begreifen sucht, ist tendenziell geschichtslos. Nurmehr mittelbar, indem sie im Laufe der Zeit immer weniger von lebendigem denkerischen Interesse getragen wird und zum ehrfürchtig tradierten Lehrstoff erstarrt, nimmt sie am geschichtlichen Wandel vom frühen zum späten Mittelalter teil.Die andere Ebene der Musiktheorie versteht sich als Lehre im Hinblick auf die Praxis. Sie richtet sich auf Gegenstände wie Skalen, Tonarten und Melodietypen, Intervalle und Akkorde, Konsonanz- und Dissonanzverhältnisse, Gesetze der Stimmführung (in der Lehre vom Kontrapunkt) und Regeln der Metrik und Rhythmik (zum Beispiel in der Moduslehre der Perotinzeit). Dies alles lehrt und untersucht sie, im Wandlungsprozess von der Ein- zur Mehrstimmigkeit und von der Improvisation zur Komposition, in Verbindung mit der »Kunst«, es dem jeweiligen Stand entsprechend aufzuschreiben. Als Lehre ist auch sie »Ars musica«, quadriviale Disziplin der Sieben Freien Künste und zielt auf die Durchdringung, Erklärung und Lenkung einer ohne sie blinden und geistlosen Musikübung (»usus«). Das aber bedingt zugleich ihre Geschichtsrelevanz. Indem sich Musik ausbreitet, als Mehrstimmigkeit sich entwickelt, in zahlreicher werdenden Kompositionen sich manifestiert und in aufeinander folgenden Stilphasen sich entfaltet, gelangt die »Ars musica« ebenfalls zu immer neuen theoretischen Ansätzen. Praxis aufnehmend und sie anregend, steht diese Ebene der Musiktheorie in ständiger Wechselwirkung mit Veränderungen der Komposition und der Notation und ist mit ihnen in einen gemeinsamen geschichtlichen Wandel eingebunden.Betrifft dies eine Veränderung der Inhalte, so ist zum Spätmittelalter hin auch eine Veränderung in der Gewichtung der beiden Ebenen festzustellen. Während die kontemplative Musiktheorie oft nur noch die Gelehrsamkeit der Autoren bestätigen soll, nimmt die Diskussion der Praxis einen immer größeren Raum ein. Besonders deutlich wird das bei Johannes de Grocheo, der um 1300 in seinem Traktat »De musica« mit kühnem Modernismus Engelsmusik und Sphärenharmonie dem Bereich des Glaubens zuweist und sich vorrangig empirischen Fragestellungen zuwendet. So schreibt er als erster mittelalterlicher Autor ausführlich über die Gattungen der »Musica vulgaris«, der weltlichen ein- und mehrstimmigen Musik, die »zum Gebrauch oder zum Zusammenleben der Bürger notwendig« sei. Er spricht ihnen sogar gesellschaftsstabilisierende und moralische Wirkungen zu und stellt sich damit gegen die traditionelle negative Bewertung der Lied- und Tanzmusik durch den Klerus.Zwar steht Grocheos Traktat in der zeitgenössischen Musiktheorie vereinzelt da. Dennoch lassen sich seine Gedanken einer allgemeinen Tendenz des spätmittelalterlichen Schrifttums zuordnen. Individuelles Gestalten und Erleben von Musik rückt nun ins Zentrum des Interesses. Nicht mehr der spekulierende Verstand, sondern die Erfahrung und die an ihr geschulte Urteilsfähigkeit des Musikers und seiner Hörer wird zur richtungweisenden Instanz. Der geschichtsstiftende Zusammenhang von Notation, Komposition und Musiktheorie in einer Theorie und Praxis umgreifenden »Ars musica« wird am Ende der Epoche aufgebrochen. Kreatives Schaffen - eine neue, nicht mehr mittelalterliche Vorstellung vom Akt des Komponierens - gerät im Streben nach Autonomie in ein zunehmendes Spannungsverhältnis zur theoretischen Reflexion, in deren Fragenkreis die Art der Notierung keine Rolle mehr spielt. Was jedoch aus dem Erbe des Mittelalters sich bewahrt, ist das Phänomen der sich etablierenden Geschichtlichkeit als ein konstitutives Moment europäischer Kunstmusik. Alles spätere Komponieren, Realisieren, Hören, Erleben, Beschreiben und Deuten von Musik, wie differenziert und problematisiert auch immer, bleibt ihm verpflichtet.Prof. Dr. Peter SchnausEggebrecht, Hans Heinrich: Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Taschenbuchausgabe München u. a. 1996.
Universal-Lexikon. 2012.